18 Stunden Warten für 12 Minuten Unterhaltung - 1. Januar 2010

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Sydney feiert weltweit als einer der ersten Städte Neujahr. Das Feuerwerk von der Harborbridge mit der Oper im Vordergrund ist weltbekannt und soll einmalig sein. So haben wir unseren Australienteil speziell etwas hingehalten, um die Silvesternacht und den Beginn des neuen Jahrzehntes hier zu feiern. Wir informierten uns vorab, von wo man das Spektakel am besten bestaunen kann. Ein paar extraordinäre Partys mit Eintrittspreisen von über Fr. 1'000 pro Person waren dann doch etwas über unserem bescheidenen Budget. Wir fanden jedoch einen Park, genau gegenüber dem Feuerwerk, welcher der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird. 20'000 Personen würden darin Einlass finden und die Türen würden um 10 Uhr geöffnet. Wie früh man aber anstehen muss, das wusste keiner, selbst das Internet gab wenig bis gar keinen Aufschluss darüber.



6.30 Uhr Tagwache

7.00 Uhr Frühstück



Das Gepäck mit sämtlichen Esswaren, Getränken, Wolldecke, Sonnencreme, Regenschutz, Schulmaterial, Büchern, Spielen, aufgeladenen IPods und Kameras wurde schon am Vorabend grifffertig hingestellt. Dies ermöglicht uns, am Morgen innert Sekunden aus dem Backpacker zu fliehen. Auf der Bahn sind noch nicht viele Leute, die jedoch welchen wir begegnen, pilgern alle an denselben Ort.



7.30 Uhr Wir stehen in einer Schlange und diese beginnt tumorartig hinter uns zu wuchern. Vor uns stehen nur ein paar Hundert Menschen. Super gemacht. Wir freuen uns schon. Das sollte uns doch einen Frontplatz ermöglichen. Wir schmieden den Plan, dass Reto und Andrin mit der Wolldecke losrennen, sobald wir drinnen sind und Roman und ich das Gepäck hinterher schleppen würden.



10.00 Uhr Wir stellen mit Schrecken fest, dass aus den paar Hundert Menschen vor uns, unterdessen eine beträchtliche Menge von ein paar Tausend herangewachsen ist. Alle haben einen Freund vorgeschickt, der sich morgens um 6 Uhr anstellen würde, damit sich die übrigen Freunde gemütlich gegen den Park vorarbeiten können. Super! Der Frustrationslevel erreicht somit seinen Höhepunkt.



11.00 Uhr Wir stehen weiter an. Die Buben beschäftigen sich mit Kartenspielen. Wir kommen dem Eingangsgate endlich etwas näher und der permanente Strom von aberhunderten von Menschen, die seitlich in die Schlange einfädeln hört auf.



11.12 Uhr Vor uns wird eine Touristin ohnmächtig, schlägt sich den Kopf an der Metallabschrankung auf und liegt bewusstlos am Boden. Die Sanitäter sind schnell zur Stelle und versucht sie aufzuwecken. Wir gehen im Gänsemarsch weiter und ab durch die Security.



11.30 Uhr Wir sind im Park! Rennen für gute Plätze hat nun leider nicht mehr viel Sinn. Reto und Roman stürmen trotzdem los und finden am hintersten Eck einen recht guten Platz. Von hier sieht man das Opernhaus und etwa einen Drittel der Brücke. Wir trösten uns damit, dass es schlechter hätte kommen können.



11.40 Uhr Hinter uns füllt sich die Wiese mit Wolldecken und gutgelaunten Menschen. Reto will es wissen und beschliesst, durch den Park zu rennen, um zu schauen, ob er nicht doch irgendwo ein besseres Eckchen finden könnte. Zuvorderst an der Spitze des Parks ist ein Bereich für die Presse abgeschirmt, daneben eine grosse Wiese ohne Leute mit grossen Metallgestellen verbarrikadiert. Reto geht zum Security und fragt diesen: „Was ist mit diesem Teil hier, kann man hier Eintritt bezahlen oder wie kommt man da rein?“ „Das ist ein Bereich, der speziell für Familien reserviert ist“, antwortet ihm der Mann in der gelben Veste. „Und warum wissen wir das nicht? Ich hol dann meine Familie!!!!“



11.55 Uhr Reto kommt schweisstriefend zu uns geschnaubt und meint: „Packt eure sieben Sachen schnell wieder ein und kommt sofort mit!! Ich habe uns einen super Platz gleich neben der Presse gefunden.“ Da musste man uns natürlich nicht zweimal bitten. Wir knallen all unser Hab und Gut in die Rucksäcke und spurten los. Der Security meint, als wir ankommen: „Ach, doch noch eine Familie! Ihr seid die ersten. Wir haben schon andere Leute rein gelassen, da wir dachten, es hätte heute keine Kinder. Wir breiten unsere Wolldecke an vorderster Front, neben vielen Asiaten aus. Für den Moment ist alles friedlich.



12.30 Uhr Wir packen unser Picknick aus und genehmigen uns ein gemütliches Mittagessen.



15.00 Uhr Eine nette Familie setzt sich hinter uns und die Kinder beginnen bald einmal zusammen Karten zu spielen. Die Stunden fliegen überraschenderweise im Fluge vorbei.



18.00 Uhr die angepriesene Flugshow startet. Mit aber nur mal gerade drei alten kleinen Flugzeugen am Himmel, kommt darüber nicht wirklich eine Stimmung auf. Wir essen unsere zweiten Brötchen.



21.00 Uhr der Startschuss für das ‚Kinderfeuerwerk’. Wir pressen uns gegen die wundersam vermehrten Asiaten neben uns und stellen sicher, dass die uns den Platz nicht rauben. Reto stämmt sich mit seinem Körper gegen die pressende Masse. Das Feuerwerk ist wundervoll. Es dauert 8 Minuten und ist herrlich.



21.09 Uhr Die Taiwanesen neben uns haben unterdessen festgestellt, dass die zweite Reihe nicht allzu viel zu sehen bekam (die Männer müssen ja auch nicht vorne und die Mädels dahinter stehen!!) und sie wollen uns unseren Platz nun endgültig streitig machen und drücken mit allen Mitteln gegen uns. Da ich Fotos machen will, stelle ich mich an die Abschrankung und verteidige mit meinem Ellenbogen, Körpergewicht und Hinterteil unseren Platz. Das Problem daran ist, dass das nächste, das grosse Feuerwerk erst um 24 Uhr abgefeuert wird.



21.15 Uhr.... das sind nach Adam Riese gerade mal 2 Stunden und 45 Minuten von ungewollter körperlicher Nähe zu meiner Rechten. Das Schuppsen und Pressen erreicht eine neuen Level, als sich ein 1.80 m grosser Asiat finden lässt, der es gegen mich aufnehmen soll (die kleineren Gestalten haben unterdessen resigniert).



22.30 Uhr Er steht dicht an mich heran. Es gibt wohl nichts tolleres, als fremde behaarte Männerbeine an meinen frisch rasierten Waden zu verspüren. Ich werde den Platz nicht aufgeben!



22.45 Uhr Er drückt weiter und beginnt mit lästigem Husten, wohl um mir Angst zu machen! Reto fragt mich, ob er mich ablösen soll... wenn ich jetzt aber einen Zentimeter rutsche, dann ist der Platz weg und wird von hunderten von Taiwanesen übernommen. NEIN, ich bleibe hier und halt mich mit einer Hand fest, um sicher zustellen, dass ich mich nirgends hindrücken lass. Nun beginnt er zu rauchen – nicht Reto, der Asiat natürlich. Er bläst mir genüsslich seinen Atem um die Nase. Bhaa – soll er. Ich werde mich nicht bewegen!



23.00 Uhr Mir fällt der Deckel meiner Kamera runter auf den Boden – vor die Abschrankung. Ich höre die Nachbarn neben mir lachen... nun würde ich wohl weggehen, um diesen aufzulesen. Quatsch. Ich warte, bis die nächste Polizeipatrouille vorbei kommt. Die werden das für mich machen. Ich beweg mich keinen Zentimeter!



23.20 Uhr Meine Hände schlafen ein und ich merke, wie sich der Taiwanese von mir leicht abwendet. Aufschnaufen! Ich höre die Gruppe diskutieren und dann kommt er wieder neben mich und will verhandeln: „Sorry,... ich möchte auch ein gutes Foto machen, kannst du bitte kurz für fünf Minuten weg.“ Wie bitte! Ich erinnere mich an die Schweizer Reisläufer ... die waren auch nicht bekannt dafür, dass sie sämtliche Schlachten aufgaben und ihr Handtuch halbwegs wegwarfen! Da kommt mein Innerschweizer Grind gerade recht. Ich erkläre ihm bestimmt, dass er seine kleine Freundin fragen soll, die steht ja schliesslich auch zuvorderst. Zudem, glaube ich ihm die fünf Minuten nicht! Wenn ich weg gehe, ist der Platz für immer weg. Ich verhandle nicht! Er schaut mich verärgert an und flucht. Ich sage ihm: „Hey, wir sind hier mit fünf Kindern (die der Familie hinter uns, die einiges jünger sind als unsere und somit kleiner), wenn ich dir den Platz jetzt gebe, sehen diese fünf Kids nichts mehr und das kann ja auch nicht in deinem Sinne sein!“ Dagegen hat er nichts mehr einzuwenden. Schlacht gewonnen!



23.59 Uhr Der Countdown erscheint am Brückenpfeiler: „Five – Four – Three – Two – One“ schreien 1,4 Millionen Menschen um das Seebecken und mit dem ersten Abschuss einer Rakete beginnt ein Schauspiel, das keine Kamera einfangen, kein Wort beschreiben und kein TV-Bildschirm wiedergeben kann. Ein Spektakel der anderen Art erhellt den Himmel und den Meeresarm. Gigantismus ist das Wort, welches das Erlebnis wohl am ehesten beschreiben kann. Uns allen laufen Tränen über die Wangen, das Schauspiel ist so atemberaubend. Mit schluchzenden Stimmen wünschen wir uns nach dem Schlussbouquet ein „Happy new year!“ und müssen uns erst mal vergewissern, dass die Harbor Brücke denn noch steht.



24.12 Uhr Wir sind benommen und befinden uns in einem tranceähnlichem Zustand ... und dies, obwohl wir in der Familienzone nur mit Mineralwasser aufs neue Jahr anstossen durften.

HAPPY NEW YEAR!



PS: Und ja, es war das 18stündige Warten wert!